Am Montag, den 7. März gegen 22 Uhr fahren Nadja, Roman und die Kinder bei uns
auf den Hof. Wir können es alle kaum fassen. Achteinhalb Tage Flucht aus der
Ukraine, teilweise unter Beschuss, tagelang im Auto, Tränen, Angst, Wut. Wir
umarmen uns und essen zusammen. Pizza hatten sich die drei Kinder gewünscht,
Suppe und Obst, trinken dazu Cola. Unwirklicher Friede in einer schrecklichen Zeit.
Nadja erzählt schnell, sie lacht und weint. Was ich nicht verstehe, tippt sie in ihr
Handy in einen Übersetzer. Immer wieder sagt sie den Satz: „die Hauptsache ist, wir
sind am Leben!“
Nadja hat in Mariupol als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet, sie liebt
ihren Beruf und fragt sich, was aus den Patienten geworden ist. Sie hatte ihrem Mann
vorgeschlagen, in Mariupol zu bleiben, um Verletzte zu versorgen. Roman wollte das
nicht, sie haben drei Kinder. Ich bin so froh, dass Nadja nicht in Mariupol geblieben ist,
die Bilder, die ich täglich im Fernsehen von Mariupol sehe, sind unfassbar. Ihre Flucht
aus der Ukraine dauerte lange, Roman hat alle Städte und Orte, in denen gekämpft
und geschossen wurde, umfahren, deshalb waren es fast 1000 Kilometer mehr
Fahrtweg.
Er sieht grau aus, zerbrochen, er spricht leise. Immer wieder Sätze, in denen beide
von den Schüssen, den Bomben erzählen. Nadja sagt, sie dachten, der Krieg würde
etwa drei Tage dauern und sie könnten in Mariupol bleiben. Keiner hat mit diesem
Dauerbeschuss gerechnet. Zuerst sind sie nach Moldawien gefahren. Dort haben sie
sich in einem kleinen Dorf ausgeruht. Die moldawische Dorfgemeinschaft dort hätte
täglich 150 bis 300 Flüchtlinge mit Essen und Schlafplätzen versorgt.
Als Nadja sicher war, dass auch ihre Eltern es geschafft hatten, aus Mariupol zu
fliehen, fuhren sie weiter. Durch Rumänien nach Ungarn. An der Grenze zu Ungarn
warteten sie über 8 Stunden. Kurz nach der ungarischen Grenze in Szegedin ging das
Auto kaputt. In dieser Situation erlebte die Familie große Hilfsbereitschaft, sie
erhielten eine kostenlose Übernachtung, bekamen Lebensmittel geschenkt und ein
Mechaniker reparierte das Auto.
Nadja sagt, „Gott hat uns überall geholfen und versorgt!“ In Mariupol hatte die Familie
eine schöne Wohnung, Roman und Nadja hatten Arbeit, einen großen Freundeskreis.
Die Kinder lernten Instrumente, die sie zurücklassen mussten, weil kein Platz mehr im
Auto war. Der Sohn steht kurz vor dem Schulabschluss, Nadja sorgt sich, ob und wie
er dieses Jahr seinen Abschluss machen kann.
Wir haben viel geredet, waren am nächsten Tag draußen Badminton und Basketball
spielen, haben Freunde getroffen, die humanitäre Hilfsgüter sammeln. Dort in der
Garage der Freunde haben Nadja und die Mädchen ein paar Dinge mitgenommen, eine
Winterjacke für die Große, Spiele für die Jüngste, ein Fernglas für den Sohn, eine
Powerbank. Später stehen wir auf dem Sportplatz, der Junge zeigt mir durch das
Fernglas begeistert den Rotmilan, der über uns kreist. Ein bewegender Moment.
Mittags fährt die Familie weiter nach Bielefeld, dort haben sie Freunde, die ukrainisch
sprechen und Roman helfen, Arbeit zu finden. Roman hatte in den letzten Jahren
bereits in Bielefeld auf Baustellen gearbeitet. Er hofft, dort wieder eine Anstellung zu
finden.
Am Abend meldet sich Nadja, sie sind gut angekommen, wohnen jetzt zu fünft in
einem Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Ich spüre Erleichterung und ebenso
Sorge. Wie wird das gehen, zu fünft in einem Raum?
Wir bleiben in Kontakt und ich merke, wie schwer dieser Neubeginn für die Familie ist.
Die Erfahrungen der Flucht, das „nicht mehr zuhause sein“ - alles rutscht ins
Bewusstsein und muss verarbeitet werden. Ich bin froh, dass Roman Freunde in
Bielefeld hat, die ihn und seine Familie unterstützen.
Conny

Nächster Beitrag Vorheriger Beitrag