Vitali J.


Vor einem Monat ist unser Nachbar gestorben. Wir haben ihn immer für einen Russen gehalten. Da er in einer Einraumwohnung gelebt hat, spielte sich der Großteil seines Lebens hinter unserer Schlafzimmerwand ab. Fast immer hatte er Besuch. Freunde kamen früh um 6:00 Uhr, in den Nachmittagsstunden, Abends oder auch mal 2:00 Uhr in der Nacht. Es wurde immer viel getrunken und geraucht, dabei fortlaufend geredet und diskutiert.

Häufig klingelten wir in der Nacht bei ihm und baten um Ruhe. Meist entschuldigte er sich und je nach dem, wurde es etwas ruhiger oder es blieb, wie es zuvor schon war. Sehr häufig haben wir uns darüber geärgert und schlecht geschlafen.

Eines Tages blieb es ruhig; 1 Tag, 2 Tage, 3 Tage – wir waren über die ruhigen Nächte wirklich froh; dann erfuhren wir, dass unser Nachbar verstorben war. Bestatter trugen ihn im Sarg aus unserem Haus.

Ein Familienangehöriger räumte wenige Tage später die Wohnung aus. Wir wechselten ein paar Worte. Dabei erfuhren wir: Unser Nachbar stammte vom kaspischen Meer und wurde in Kasachstan geboren. Er war nicht viel älter, als wir selbst. Sein Tod kam unerwartet und plötzlich.

Vermutlich ist er nach 1993 als Spätaussiedler in das 4500 Kilometer entfernte Deutschland gekommen. Die über Generationen in Russland lebenden Deutschrussen galten den Russen als Deutsche, wurden z.B. während des zweiten Weltkrieges von Stalin nach Sibirien verschleppt; in Deutschland wurden und werden sie zumeist als Russen wahrgenommen.

Sein plötzlicher Tod hat mich bewegt; sicher auch weil er uns hinter unserer Schlafzimmerwand so nah kam. Die plötzliche, beständige Ruhe führt uns die unabweisliche Tatsache seines Todes nachdrücklich ins Bewußtsein. Die ersten Tage habe ich ein Gedenklicht im Treppenhaus entzündet; wollte würdigen, dass hier ein Mensch gelebt hat, der nun nicht mehr da ist. So ärgerlich die unruhigen Nächte waren und so erholsam die neu gewonnene Nachtruhe sein mag; der Tod stellt doch Vieles unter ein neues Vorzeichen. Vordergründiges verliert an Gewicht und öffnet damit einen Raum für wesentliche Fragen.

Zwischen den Buchdeckeln aller unserer Leben liegen Geschichten, die von Hoffnungen und Plänen erzählen; die von Gemeinschaft, Fürsorge, Liebe, Zuneigung und Freundschaft zeugen und die Sorgen, Ängste, Schmerz, Enttäuschung und Einsamkeit widerspiegeln. Es lohnt sich wohl immer, sich hier und da füreinander zu interessieren, schon bevor die letzte Seite umgeschlagen wird.

An einer Laterne angeschlossen steht noch sein Fahrrad, wie immer abfahrbereit. Das wurde wohl vergessen. Mich erinnert es an unseren Nachbarn Vitali J.

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